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Polderplatt ist die Landschaft. Kein Wunder, dass man zwischen Groningen und Den Haag besessen ist vom Berg.

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Zürich
25.11.2011

Wenn Flachländer sich nach Bergen sehnen

Veröffentlicht in der NZZ

Niederländische Alpinisten haben es nicht leicht: In ihrem Land befindet sich kein einziger Berg. Die Sehnsucht nach alpinistischem Erleben gilt es auswärts zu stillen – unter anderem in der Schweiz.

Kaum hat der deutsche Alpinist sein Revier in einem nahegelegenen Mittelgebirge aufgesucht und die Natur betreten, kommen auch schon die Busse mit den Niederländern. Beispiel Hamburg: 16'000 Mitglieder hat der Deutsche Alpenverein in der Hansestadt. Sobald das Wetter aufklart, zieht es die Hamburger ins Ith im Weser-Leine-Bergland. Das ist das bedeutendste Klettergebiet Norddeutschlands und in zwei Stunden mit dem Auto zu erreichen. Von Utrecht braucht man dreieinhalb.

Fünf Gebiete in deutschen Mittelgebirgen empfiehlt die Koninklijke Nederlandse Klim- en Bergsport Vereniging. Zehn Reviere bieten sich in Belgien an, aber da müssen sich Gruppen aus dem Ausland neuerdings anmelden, um eine Überbelegung der Felsen zu vermeiden. So kann es passieren, dass der trainingswillige Niederländer bis nach Luxemburg, in die Vogesen oder sogar bis nach Fontainebleau bei Paris fährt. Oder man ergeht sich am futuristisch anmutenden und 37 Meter hohen Kletterturm „Excalibur“ in Groningen.

Die Euphorie für den Bergsport in einem Land ohne Berge ist beachtlich: 55'000 Mitglieder hat die NKBV. Die Niederlande haben in etwa die gleiche Grundfläche wie die Schweiz, aber doppelt so viele Einwohner. Ein Fünftel des Landes liegt unter dem Meeresspiegel. Die höchste Erhebung ist mit 322,7m der Vaalserberg im Dreiländereck zwischen Niederlande, Deutschland und Belgien, ein beliebtes Ausflugsziel für Fahrradfahrer. Polderplatt ist die Landschaft, der Horizont zieht sich ins Unendliche. Kein Wunder, dass man zwischen Groningen und Den Haag besessen ist vom Berg. Und das hat Tradition.

1902 als Nederlandse Alpenvereniging ins Leben gerufen, waren die akademisch gebildeten Mitglieder zunächst in der Schweiz aktiv. Vor dem Zweiten Weltkrieg lag der Schwerpunkt im Wallis und verschob sich später ins Mont Blanc-Gebiet. Niederländische Alpinisten bevorzugten grosse Traversierungen. In den 30er Jahren durchschritt Dr. Philip Verslys, „Der Fliegende Holländer“, den Zmuttgrat am Matterhorn über zwanzig Mal. Britanniahütte, Allalinhorn, Alphubel, Täschhorn, Dom, Lenzspitze, Mischabelhütte, alles an einem Tag: „Das beeindruckt uns heute nicht mehr“, sagt Charles Dufour, ehemals Chefredakteur von „De Berggids“, „aber früher galt es als kühn. Es gab kaum Zeit zum Sichern.“

Herausragende Leistung des niederländischen Alpinismus ist die Anden-Expedition von Cees Egeler und Tom de Booij mit dem französischen Führer Lionel Terray auf den Nevado Huantsán im Jahr 1952. Die eigentliche Lichtgestalt aber ist eine Frau: Jeanne Immink. Sie revolutionierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Frauenbergsteigen, führte die Kletterhose ein, gilt als Erfinderin des Abseilgurts und trug den ersten Steinschlaghelm: eine Reiterkappe. Ihr sportlicher Stil war Avantgarde. Zunächst in der Schweiz aktiv, wurde sie später mit Erstbegehungen in den Dolomiten bekannt. Durch ihre Freundschaft mit Theodor Wundt, Pionier der Bergfotografie, entstanden die ersten Fotos von einer Bergsteigerin in Hosen am Fels.

Auf institutioneller Ebene näherte sich die NAV der Schweiz nicht weniger ambitioniert als einzelne Bergsteiger auf der Suche nach dem Abenteuer. Die Vereinigung betrieb eine systematische Hüttenpolitik und suchte durch Engagement Gastrecht zu erwerben. 1932, die NAV hatte damals knapp 800 Mitglieder, steuerte man 25'000 CHF zum Ausbau der Egon von Steiger-Hütte im Lötschental bei, ein für damalige Verhältnisse enorm grosser Betrag. Zum Dank nannte man die Bergsteigerunterkunft Lötschenhütte Hollandia und gewährte der NAV als erstem ausländischen Alpenverein das Gegenrecht in allen SAC-Hütten. Seitdem bezahlen die Bergfreunde von der Nordsee den gleichen Preis für eine Hüttenübernachtung wie Mitglieder des Schweizer Alpenclubs. 1970, die NAV hatte mittlerweile das Prädikat "königlich" erhalten, erfolgte die Einrichtung eines Hüttenfonds, mit dem Ziel, auch andere Alpenländer zu unterstützen. 1985 partizipierte die Schweiz erneut: 10'000 CHF flossen in die Renovation der Bietschhornhütte. Als Ende der 70er Jahre das 75-jährige Jubiläum der KNAV nahte, offerierten die Niederländer dem SAC 75'000 CHF. Das Budget setzte man zum Bau des Arbenbiwaks in Zermatt ein. Mit dem schweizerisch-niederländischen Projekt erschloss die noch junge SAC Sektion Zermatt ein Gebiet, das aufgrund seiner Felsbeschaffenheit und Blick auf die Matterhorn-Nordwand mit den schönsten Klettertouren des Wallis aufwartet, allen voran die 700m hohe Südwand des Obergabelhorns und der Westsüdwestgrat, auch Arbengrat genannt. 30 Freiwillige der KNAV schaufelten im Sommer 1976 in dreiwöchiger Fronarbeit die "Holländerkehre" in der Arbengandegge. Dass das Budget um 30'000 CHF überschritten und übernommen wurde, schien die Bergfreundschaft nur zu stärken. Für die Schweizer Freunde strich Botschafter Baron Collot d'Escury zur Einweihung die blau-weiss-rote Flagge. Das sei etwas, so d'Escury, was ein seefahrendes Volk nur täte, wenn es sich in der Seeschlacht dem Gegner ergebe oder das Schiff einer befreundeten Nation grüsse.

7. Juli 1977: 200 Holländer befinden sich gleichzeitig auf 4000m über dem Meeresspiegel und besteigen Breithorn, Alphubel und das Nordend. Eine Woche lang dauern die Feierlichkeiten mit Alpin-Prominenz aus der Schweiz und befreundeten Verbänden aus dem Ausland. Vertreter namhafter niederländischer Medien werden am 9. Juli zur offiziellen Einweihung des Arbenbiwaks per Helikopter eingeflogen. Der Berner Kunstmaler Edmund Wunderlich überbringt das Gemälde "Obergabelhorn". Zum zehnjährigen und 25-jährigen Jubiläum wimmelt es erneut von Niederländern in der Arbengandegge.

Mit 300 Übernachtungen im Jahr sind die Kapazitäten des Arbenbiwaks noch nicht ausgeschöpft. Das Panorama auf die Matterhorn-Nordwand aber ist es wert, wenn der Weg für Wanderer auch gefährlich ist. Geheimtipp ist das stille Örtchen: Ausgestattet mit einer Dauerspülung aus Gletscherwasser, hat man einen phantastischen Blick auf das Monte Rosa-Massiv. "Wenn die Tür weit offen steht", sagt der ehemalige Hüttenverantwortliche Alfons Biner, "dann ist besetzt". Das Wellblech-WC steht so exponiert, das keiner Einblick nehmen kann. Das Erlebnis Arbenbiwak ist mitnichten ein rein sportliches, und es wurde durch bergvernarrte Niederländer ermöglicht. Doch brauchen diese in Zukunft die Alpen eigentlich noch?

Ein Berg wird kommen

Im vergangenen Sommer schlug der Sportjournalist Thijs Zonneveld scherzhaft vor, in der Provinz Flevoland einen 2000m hohen Berg zu bauen, um das grosse Manko der niederländischen Landschaft zu kompensieren. Die Resonanz auf die Kolumne war gewaltig. Die Idee drang bis in Ingenieurbüros und Sportverbände vor. Worum es gehen könnte, darum diskutierten rund 100 Firmen mit. „Der Berg ist die grösste Innovationsplattform der Niederlande“, so Zonneveld. Da sich die Investitionslage nicht einfach gestaltet, gehen die neusten Ideen dahin, das Bauprojekt in Blöcke aufzuteilen.

In „The Making of Nature“ beschreibt die Planungswissenschaftlerin Susanne Kost diese Mentalität der Machbarkeit in einem Land, das die umfassendsten Erfahrungen mit grossräumigen Veränderungen von Landschaft in Europa hat. „Der Berg“ ist ein typisches Beispiel für eine Natur, die als machbar verstanden wird. Nach der dankbaren Aufnahme des Themas in der europäischen Zeitungslandschaft und einem kurzen Anflug von Euphorie in den Marketing-Departments von Schweiz Tourismus schweigt man würdig wie ein Alpengipfel. Auch die Altvorderen der NKBV reihen sich lieber in die klassische Sehnsucht nach alpiner Natur ein. Und die gilt es immer noch auswärts zu erleben.