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Mit Elan stürzen sich die Campo-Gäste auf täglich anfallende Arbeiten, um aus dem Kopf in die Hand und so ins Herz zu kommen.

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Rasa
3.8.2012

Ein Seelengarten im Centovalli

Veröffentlicht in der NZZ

In einem stillen Winkel des Tessin liegt ein autofreies Dorf, das seit seiner Entdeckung vor fünfzig Jahren zu einem Ort der Kontemplation geworden ist. Rasa ist ein heiliger Flecken Erde und tut der Seele wohl.

Rasa fällt aus der Zeit. Ein abgelegener Ort im Centovalli, nur mit einer Seilbahn zu erreichen, zwingt uns sanft seinen Rhythmus auf. Zeit in Rasa vergeht weder schnell noch langsam. Sie ist ein wenig streng, aber immer nachsichtig, wie die Turmglocke der Kirche St. Anna, die ein paar Minuten zu früh schlägt. So ist das, wenn wir uns im Urlaub einem Ablauf unterwerfen, und sei es den festen Essenszeiten des Campo Rasa, der einzigen und schlicht-schönen Unterkunftsmöglichkeit in dem Tessiner Bergdorf.

Das Campo ist das Ferienzentrum der VBG, der "Vereinigten Bibelgruppen in Schule, Universität und Beruf", einem Netzwerk evangelischer Christen, die in den 60er und 70er Jahren verfallene Palazzi des Dorfes mit Enthusiasmus und Exerzitien wieder aufbauten und seither den Ort zur spirituellen Erneuerung nutzen. "Das Projekt", erklärt Zentrumsleiter Peter Flückiger, "kann man auch als christliche Antwort auf die Studentenunruhen der 60er Jahre verstehen." Bis zu 56 Personen finden in den vier Gästehäusern Platz. Oft sind es Gruppen, aber auch Individualgäste, für die es Ein- und Zweibettzimmer gibt. Das schönste Haus ist die Casetta, ein ehemaliger Hühnerstall für zwei Personen.

Ein typischer Morgen in Rasa: Seniora Rina Ceschi, die älteste Dorfbewohnerin, nähert sich um acht Uhr in langsamen Schritten, gestützt auf Krücke und Haselnussstock, der Kirche, um sie aufzuschliessen. Jahrzehntelang hat sie täglich über tausend Höhenmeter zurückgelegt. Rina war für die Post zuständig. Heute bringt sie Hortensien für das St. Anna-Fest. Wir warten schon auf der kleinen Bank an der Ostwand der Kirche und lassen uns von der Morgensonne erleuchten. Wenige Meter entfernt, unter dem Dachgebälk aus Kastanienholz, befindet sich der Stilleraum des Casa Fonte. Hier leitet Selma Rolli, eine ehrenamtliche Mitarbeiterin der VBG, zur Morgenbesinnung an. Das Campo Rasa hat etwas von einem evangelischen Kloster. In ihm leben zwar keine Nonnen und Mönche, aber es verbringen hier Menschen ihren Urlaub, die die spirituelle Atmosphäre nur so aufsaugen. Ein Tischgebet, ein Tischlied vor dem Essen, das war's. Alle anderen geistlichen Angebote wie das seelsorgerliche Gespräch, sind freiwillig. "Persönlich führe ich gerne Glaubensgespräche", sagt Peter Flückiger, "aber es ist die schweizerische Art, dass man die Leute nicht bearbeitet." So wird an diesem Ort eine christliche Gastfreundschaft in entspannter Atmosphäre gelebt. Möglichkeiten zum Rückzug gibt es in den Winkeln des Dorfes wahrlich genug. Auch muss man kein Gottsucher sein, um im Sonnentau, auf Gebirgskämmen und Wanderwegen, an verlassenen Köhlerplätzen oder in den Badebecken der Proggia etwas für sich zu finden. Die Landschaft mit ihren Kastanien- und Buchenwäldern ist herrlich, und wer möchte, kann sogar den Pizza Gridone (2188m) erklimmen. Die Tour dauert immerhin acht Stunden.

Heuen, Rosen schneiden, den Wildschweinzaun reparieren: Mit Elan stürzen sich viele Campo-Gäste vollkommen freiwillig auf täglich anfallende Arbeiten, um aus dem Kopf in die Hand und so ins Herz zu kommen. Dass für den Winter genügend Holz geschlagen wird, darum braucht sich Betriebsleiter Andreas Seifert kaum Sorgen zu machen. Die Holzer- und Handwerkerwochen im Oktober, an denen auch Frauen teilnehmen, sind immer gut besucht. Danach ist Ruhe: Von Mitte November bis März stellt die Seilbahn ihren Betrieb ein. Das Dorf schrumpft auf offiziell zwanzig Bewohner, die mit einem Schlüssel ihr wichtigstes Verkehrsmittel wie einen Fahrstuhl selbst bedienen können, doch auch der fällt gelegentlich aus bei Eis und grossen Schneemengen. "Dann ist man gut dran, wenn man Vorräte im Keller hat", sagt Andreas Seifert. "Auch wenn die Ferrovie Autolinee Regionali Ticinesi FART verpflichtet ist, uns mit dem Helikopter zu versorgen."

Die Gemeinde Centovalli, zu der Rasa gehört, hat die Müllentsorgung an die Dorfbewohner abgegeben. Das Campo übernimmt im Auftrag der Gemeinde die Schneeräumung. In den 20er bis 50er Jahren dachten die Tessiner Behörden darüber nach, den Ort mit einer Strasse anzubinden. "Nicht nur der Strassenbau wäre teuer geworden, sondern auch die Instandhaltung, zumal im Winter", sagt Ivo Ceschi, ehemals Chef des kantonalen Forstdienst. "Und ausserdem hatten die Leute ja gar keine Autos." Er lächelt. Das Projekt wurde fallengelassen, 1957 die Seilbahn gebaut. Sie wird bis heute subventioniert und befördert gut 26'000 Personen im Jahr, ein Drittel davon im Juli und August. Oder die Grauen Bergziegen von Andreas Seifert: Conny, Giulia,Ulla und Salomé.

Rasa, einst ein stolzes Dorf mit gut 300 Einwohnern, erbaut aus dem Wohlstand ausgewanderter Männer, die im Freihafen von Livorno bis 1847 das Privileg besassen, als Lastenträger zu arbeiten. In den 70er Jahren bis auf sieben Personen geschrumpft, verfallen, verlassen, wieder aufgebaut. Verschwindet es irgendwann im Tessiner Wald? Mit der kleinen Ziegenherde wird ein hoffnungsvoller Neubeginn einer nachhaltigen Berglandwirtschaft gemacht. Und im Herbst nimmt Seilbahn-Maschinist Marco Stauffer dann einen Ziegenbock auf Hochzeitsreise in Empfang. Er hat schon Esel und Kühe wieder hinabfahren sehen.